2013 · Gates to India Song (DE)

Für die Ausgabe 2013 des Festivals Bonjour India lud die französische Botschaft in Indien ÉRIC VIGNER ein, ein französisch-indisches Theater-Event zu realisieren. Für seine Inszenierung von GATES TO INDIA SONG, einer englischsprachigen Adaptation des Romans LE VICE-CONSUL und des Theaterstücks INDIA SONG aus dem “Indienzyklus” seiner Lieblingsautorin MARGUERITE DURAS, wählte Vigner symbolträchtige Örtlichkeiten in drei Städten aus: das Prithvi Theatre und das National Centre for the Performing Arts in Bombay, das Tagore House in Kalkutta und die Salons und Gärten der Residenz des französischen Botschafters in New Delhi.

"Marguerite Duras war nie in Indien. Es ist dies das erste Mal, aus Anlass der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages der Autorin (*4. April 1914), dass das Traum-Indien der Verfasserin von HIROSHIMA MON AMOUR auf das reale Indien - verkörpert durch ein Ensemble indischer Schauspieler - trifft."
ÉRIC VIGNER

Zu diesem erstmaligen Ereignis lädt Éric Vigner die Schauspielerin NANDITA DAS, Muse der unabhängigen indischen Filmschaffenden, ein, sich die literarische Figur Anne-Marie Stretter zu eigen zu machen - jene essentielle Figur auf Duras' Weg von Literatur zu Film. Ihr stehen vier Schauspieler der jungen Generation zur Seite: SUHAAS AHUJA, SUBODH MASKARA, JIM SARBH und NEERAJ KABI.

"Die Personen von INDIA SONG sind aus dem Roman LE VICE-CONSUL Vertriebene, hineingeworfen in neue, fremde Regionen der Erzählkunst."[1]

"Ich glaube, MARGUERITE DURAS war schlicht und einfach eine Visionärin im eigentlichen Sinn des Wortes. Sie hat eine Vision von Indien und beschreibt diese Vision. Sie träumt von Indiens Klängen, von seinen Namen, und assoziiert diese Namen mit den Elementen. Sie erweckt Lahore zum Leben, die Depression, die Schwärze der Nacht - und setzt all dem die Möglichkeit einer Wiedergeburt aus Liebe entgegen, der Liebe, die ihre Protagonisten in Kalkutta entdecken werden. Die Reise von Lahore nach Kalkutta im Buch entspricht nicht der Wirklichkeit, es besteht kein geographischer Zusammenhang, aber für die Autorin ist er Realität. Sie wählt Wörter, erfüllt sie mit Inhalt und macht aus ihnen eine Geschichte. Ihre literarische Arbeit ist es, die inspiriert."
ÉRIC VIGNER

"Kalkutta, Dienstag, 26. Februar
Das Haus von RABINDRANATH TAGORE im Schatten eines schmalen Gässchens in Kalkutta. Ein großes dunkelrotes Gebäude inmitten eines Gartens. Es ist Nacht. Ein weißer Innenhof; Säulenfassade, Laufgänge, Balustraden, Dachgarten. Italien mitten in Kalkutta. Sternenhimmel. Eine Bühne, stufenförmig angeordnete Sitzreihen, in weiße Schonbezüge gehüllte Fauteuils. Auf der Bühne ein Tisch und vier Stühle. Ich höre LE VICE-CONSUL auf englisch - zum ersten Mal. Diese herzzerreißende Liebesgeschichte im Kalkutta der Dreißigerjahre. Plötzlich schreit der Vizekonsul seine Liebe heraus, brüllend, mit einer Stimmgewalt fast übermenschlichen Ausmaßes. Sie drückt aus, was das Menschliche übersteigt, woran Menschen scheitern. SUHAAS AHUJA trifft den Ton aufs genaueste, unerbittlich. Seine Stimme wird noch gewaltiger. Welche Stimmkraft! Der Name Anne-Marie Stretter schallt durch die Nacht von Kalkutta, der Stadt, die die DURAS nie gesehen hat, die sie sich vorstellte ohne sie zu kennen, die sie ein für alle mal mit diesen Schreien, diesen Namen erfüllte. Dann steht alles still. Kalkutta wird zur Ewigkeit. Duras ist Ewigkeit - die Verbindung der zwei Werke im Schatten der Nacht ein Abgrund, der sich auftut, den man nicht schließen kann, der sich nicht schließt. ÉRIC VIGNER schließt nicht, öffnet auch nicht - lässt offen. Gerade darin liegt der Charme des Schauspiels.
DOMINIQUE SIGAUD

"Nachdem ich diese einmalige Art zu schreiben entdeckt hatte, die von Buch zu Buch, von Film zu Film, von Theaterstück zu Theaterstück um die unergründliche Frage der Liebe kreist, konnte ich mich nicht mehr von ihr lösen. Duras schenkte mir das Vokabular und die Grundlagen des Theaters, das ich machen will. In ihrem einzigen veröffentlichen Text über das Theater La Vie matÉrielle schreibt sie:

Rund um den Papst spricht und singt man eine fremd klingende, völlig eigene Sprache. In den Rezitativen der Passionen nach Johannes und Matthäus finden wir diese Klangfelder, die jedes Mal wie neu erschaffen klingen, Worte, sorgfältig ausgesprochen mit Bedacht auf ihren Klang, einen Klang, dem man im Alltag nie begegnet. Das ist das einzige, was ich glaube.[2]

Dieses Geheimnis, das die Redekunst des Theaters von der Alltagssprache unterscheidet, stellt die eigentliche Frage nach dem Theater und seiner spezifischen Eigenart, nach seinem Klang. Nun ist es aber der Klang, der Schauspieler in aller Welt eint, die die Leidenschaft für die Theaterkunst teilen. Über das semantische Verständnis hinaus, das für jede Kultur, jede Sprache spezifisch ist, gibt es wohl auch ein universelles Verstehen des Klanges, das allen in gleicher Weise zu eigen ist. Die Wahrheit des Vizekonsuls findet ihren Ausdruck jenseits aller Worte, in seiner unterdrückten Stimme und dann seinem Aufschrei, Ausdruck seiner Hilflosigkeit gegenüber den Leprakranken von Kalkutta - und seiner Liebe zu Anne-Marie Stretter. Die Entdeckung dieses Textes und die Arbeit mit den Schauspielern an diesem literarischen Stoff haben mich erkennen lassen, was ich im Theater erreichen will: auf der Bühne das Wesen der Literatur erklingen zu lassen.

Die Luft spaltete sich. Ihr Rock nahe den Bäumen. Und ihre Augen schauten mich an.[3]

So beschreibt der Vizekonsul seine Begegnung mit Anne-Marie Stretter. Wie kann das Theater dem gerecht werden? "
ÉRIC VIGNER

- Sie macht sich auf den Weg, schreibt Peter Morgan
- Wie kann man nicht zurückkehren?
- Man muss verlorengehen.
- Ich weiß nicht wie.
- Du wirst es lernen.
[3]

Indische Schauspieler hauchen durch ihre Kunst den Phantomen des Vizekonsuls und der Anne-Marie Stretter Leben ein, um der so eigenartigen Musik der Marguerite Duras Gehör zu verschaffen. Darin liegt die Gefühlswelt Indiens, die Liebe, die hier eine theatralische Lösung findet - das ist mehr als ein Schauspiel: eine künstlerische Erfahrung, in der die formenreiche Sprache der Autorin zwischen Lektüre, Bühne, Kino und Literatur wandert.

"Der letzte Autor [der eine lyrische Sprache erfunden hat], mit bewundernswertem Mut, ohne Angst vor Lächerlichem, ist Marguerite Duras : sprunghaft, mit einer außerordentlich modernen Sprache, weit entfernt von allen Lyrismen, körperlos, beschwörend."
FrÉdÉric Boyer

[1] MARGUERITE DURAS, INDIA SONG, Éditions Gallimard 1973
[2] MARGUERITE DURAS, LA VIE MATÉRIELLE, Éditions POL 1987
[3] MARGUERITE DURAS, LE VICE-CONSUL, Éditions Gallimard 1966

© Photographie : Jeremy Cuvillier, Morgan Dowsett
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient