2008 · Othello · Shakespeare · De Vos · Vigner (DE)

Am 6. Oktober 2008 eröffnet VIGNER die Saison des CDDB in Lorient mit OTHELLO von WILLIAM SHAKESPEARE, in einer neuen französischen Übersetzung und Bearbeitung für die Bühne, die er mit dem französischen Dramatiker RÉMI DE VOS realisierte (es spielen : BÉNÉDICTE CERUTTI, MICHEL FAU, SAMIR GUESMI, NICOLAS MARCHAND, VINCENT NÉMETH, AURÉLIEN PATOUILLARD, THOMAS SCIMECA, CATHERINE TRAVELLETTI und JUTTA JOHANNA WEISS). OTHELLO geht auf Tournee in Frankreich und wird November 2008 einen Monat lang im Odéon-Théâtre de l’Europe in Paris aufgeführt.

IAGO.
"Der Mensch müsst so sein, wie er scheint;
Und wer so nicht ist, dürft nicht menschlich scheinen."

OTHELLO.
"Gewiss, ein Mensch müsst so sein, wie er scheint." [1]

"Ich schreibe aus Atlanta, Frühling 2008, wo ich gerade IN DER EINSAMKEIT DER BAUMWOLLFELDER von BERNARD-MARIE KOLTÈS zu proben begann. Bevor ich hierher kam, übersetzten und bearbeiteten RÉMI DE VOS und ich OTHELLO. Sechs Monate konzentrierter Arbeit, vom Englischen ins Französische, in der Absicht, SHAKESPEARE, wie auch den Schauspielern näher zu kommen. Von KOLTÈS bis SHAKESPEARE, Sprachen wiedervereinigend, lese ich nochmals OTHELLO, heute im Schatten DER EINSAMKEIT."
ÉRIC VIGNER

"Zwei Männer, deren Wege sich kreuzen, haben keine andere Wahl, als sich zu schlagen mit der Gewalttätigkeit des Feindes oder mit der Sanftmut der Brüderlichkeit. Und wenn Sie sich in der Wüste dieser Stunde schließlich dafür entscheiden, das wachzurufen, was nicht da ist, es wachzurufen aus der Vergangenheit oder aus dem Traum oder aus dem Mangel, dann darum, weil man einer allzu großen Fremdheit nicht unmittelbar gegenübertritt. Vor dem Geheimnis ziemt es sich, sich zu öffnen und sich ganz zu enthüllen, um das Geheimnis zu zwingen, sich seinerseits zu enthüllen." [2]

"Wie in DANS LA SOLITUDE DES CHAMPS DE COTON geht es auch in OTHELLO um die Geschicke von Männern. Hier stehen Othello und Iago im Vordergrund, und der Kampf zwischen ihnen ist das Hauptthema. OTHELLO ist ein Kriegsstück - über den Krieg zwischen Venedig und den Türken, einen Eroberungskrieg im Mittelmeerbecken, einen Religionskrieg zwischen Orient und Okzident, einen Kampf mit dem eigenen Ich und mit dem Anderen, wenn der Andere ein Fremder ist, den es zu vernichten gilt. Es geht nicht nur um Iagos verletzte Gefühle, den Ausdruck seiner Wut über das erlittene Unrecht, dass Othello nicht ihn zu seinem Leutnant gemacht hat: es geht in dem Stück auch um die Vergiftung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Saat des Zweifels. Verlässlichkeit, Logik, die gute Ordnung, die Werte, auf denen eine funktionierende Gesellschaft aufbaut, gehen unter den Schlägen eines geheimen, schmutzigen und zuhöchst intimen Kriegs zu Bruch, den ein einzelner, tief verletzter Mensch gegen die Welt führt, die ihm diesen Schmerz zugefügt hat."
ÉV

IAGO.
"Wär ich der Schwarze, wär ich nicht gern Jago.
Wo ich ihm diene, dien ich nur mir selbst.
Gott ist mein Zeuge, nicht aus Pflicht und Liebe,
Nein, nur zeum Schein, allein aus Eigennutz;
Denn wenn mein äußeres Gehabe je
Das wahre Wolln und Wesen meines Herzens
Nach außen zeigt, ja dann geht’s nicht mehr lange,
Dann trag ich’s Herz am Rockaufschlag, daß dran
Die Krähen hacken: ich bin nicht, was ich bin
." [3]

"Iago ist ein Engel der Dunkelheit, ohne Form und Gewicht außer jenem, das ihm andere beimessen; ein Akteur, eine ‘weiße Fläche’, auf die die verschiedensten Dinge projiziert werden können; die Bühne, auf der Othellos Gewissen enthüllt wird - und, wie durch einen Querschläger, auch das unsere. Othello wirft ein Bild auf diese weiße Fläche, das er selbst nicht kennt und zu dem er noch keinen Zugang hat. Othello hat Desdemona verführt und sie geehelicht - vielleicht auch mit der Absicht, seinen gesellschaftlichen Aufstieg zu befördern. Und was er, einmal in Iagos Falle gefangen - einer Falle, die er unbewusst gutheißt -, entdeckt, ist die Liebe. Er hatte nicht gewusst, wie sehr er liebte. Und - so will es die Logik - er tötet das Objekt seiner Liebe."
ÉV

"Das berühmte Taschentuch ist der Beweis: ÉRIC VIGNER, Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner, nimmt die seidige, rechteckige Metapher in die Hand - Othellos kostbaren Gegenstand, den Iago von Desdemona stahl. Das Bild des Taschentuchs - das sich faltet und entfaltet - nimmt vielerlei Gestalt an. Die Elemente sind in ständiger Bewegung, Symbole ferner Wüstenvölker kommen ans Licht, Schatten erinnern an die Wolkenkratzer von Finanzstädten und tausende Fenster leuchten in der Nacht der Terroristen. Ein lichtdurchlässiger, hellblauer Himmel eröffnet das lebendige Schachspiel. Das Spiel findet auf einer schwarzen Scheibe statt und es spielen: König, Königinnen und die gemeißelten Soldaten. Bekleidet mit den schweren Pelzen der Monarchen, tauchen Schatten auf, unvorhersehbar, schwarz auf weiß. Zwei Brücken suggerieren die vergangene Macht Venedigs, und stellen die Oberhoheit einer westlichen Welt in Frage, die sich in nicht so guter Verfassung befindet. Ein vollkommen aktueller OTHELLO."
VÉRONIQUE HOTTE, La Terrasse, 5 novembre 2008

"In OTHELLO wird oft vom "Sehen" gesprochen - dem Wunsch zu sehen, der Ohnmacht, der Unfähigkeit zu sehen. Es ist ein sehr paradoxes Stück, jeder Augenblick ist zweideutig... Will Othello nicht sehen, daß Iago ihn hintergeht, will er doch etwas anderes sehen. Es gibt in ihm einen dunklen Punkt der dem blinden Fleck im Auge gleicht, den wir alle haben. Er braucht so etwas wie eine Offenbarung der absoluten Liebe, etwas das auch mit seinen Wurzeln zu tun hat..."
ÉV

EINE OPER AUS WORTEN
"Das Bühnenbild erinnert daran, daß ÉRIC VIGNER vor seiner Laufbahn als Regisseur aus der bildenden Kunst kam, und diesmal übertrifft der bildende Künstler den Regisseur. Diese hohen, perforierten und beweglichen Elemente - die je nach Beleuchtung in einem anderen Farbton erscheinen - VIGNER verwendet sie mit einer seltenen Begabung. Er setzt dem Schwarz - das Weiß, dem leerem Raum - den vollen Bühnenmechanismus entgegen, und wenn er die Farbe spielen läßt, gibt er den Elementen die "geraume" Kraft, die seine Schauspieler durchdringt und nährt. Der Beginn des zweiten Aktes, die Ankunft auf Zypern vor dem coelinblauen Hintergrund, der sich im Boden wie auf glänzendem Ebenholz widerspiegelt, läßt uns JOËL HOURBEIGTs Licht-design als magisches Zwielicht erleben, das RIMBAUD so nicht hätte beschreiben können. Wir gehen im schönsten Bild, das ROTHKO gemalt haben könnte, unter. Die Silhouetten der Schauspieler - gleich chinesischen Schatten oder zerbrechlichen Marionetten - lösen sich von diesem Firmament in Azur ab und verkünden das Ende des Krieges. Ein Moment der Gnade, bevor die Welt in Dunkelheit versinkt. MAETERLINCK dachte, daß die großen Gedichte der Menschheit - wie OTHELLO oder MACBETH - für die Bühne nicht bestimmt seien, daß das Gedicht - als Kunstwerk - der Aufführung widerspricht. "Jedes Meisterwerk ist Symbol, und als solches frei von menschlich aktiver Präsenz. Es wäre notwendig, uns die menschliche Aktivität auf der Bühne vergessen zu machen." ERIC VIGNER gelingt dies, indem er seine Schauspieler und sein Bühnenbild untrennbar vereint; die "Finsternis von Mond und Sonne" findet statt, Schwarz und Weiß werden zu Verbündeten, und es wart nicht "die Höll und Nacht... zur Welt gebracht", sondern eine Harmonie veredelter Ästhetik, in der sich menschliche Natur vergeistigt."
OLIVIER DHÉNIN, LES TROIS COUPS, 14. November 2008

OTHELLO.
"Langsam! Noch ein, zwei Worte, eh Sie gehn.
Ich hab dem Staat recht gut gedient; er weiß das.
Davon kein Wort. Ich bitt Sie, wenn Sie brieflich
Die unseligen Taten melden, sprechen Sie
Von mir so, wie ich bin: Nichts mildern, nichts
Bösartig schärfen. Sprechen Sie von einem,
Der nicht sehr klug geliebt hat, doch zu sehr…
" [4]

"Es gibt keinen Ausweg, keine Hoffnung in diesem schwarzen Stück. Der ausländische Söldner, der Berberhengst, den die Republik nur aus politischen Gründen duldet und somit Desdemonas Entführung nicht entgegenwirkt, wird durch diese geheimnisvolle Ohnmacht ins Chaos zurückkehren. Es kommt zum Fall des Menschen, als Iagos Gift wirkt. Othello wird der Ausländer bleiben und des Todes unergründliches Werk vollzieht die sich in diesem Stück, ohne jede Sublimation. Man sieht nur Wüste."
ÉV

[1] SHAKESPEARE, OTHELLO, 1604, Dritter Akt, 3. Szene, Deutsch von FRANK GÜNTHER
[2] BERNARD-MARIE KOLTÈS, IN DER EINSAMKEIT DER BAUMWOLLFELDER, Deutsch von SIMON WERLE, Verlag der Autoren 2007
[3] SHAKESPEARE, OTHELLO, 1604, Erster Akt, 1. Szene
[4] SHAKESPEARE, OTHELLO, 1604, Fünfter Akt, 2. Szene

 

© Photographie: Alain Fonteray, Cyril Brody
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient