2011 · Guantanamo · Vigner (DE)

Éric Vigner und die sieben jungen Schauspieler setzen ihre Arbeit im Rahmen der Académie fort - mit einem poetischen Ritornell über das Thema des Fremdseins. "Bei uns besteht nicht das klassische Regisseur-Schauspieler-Verhältnis: es geht nicht nur um eine Inszenierung sondern ebenso sehr um einen sich über drei Jahre erstreckenden Prozess der Erforschung und Umsetzung des Textes." Dem Corneille'schen Alexandriner, der seinen eigenen Gesetzen folgt, entspricht der Telegrammstil der Verhörprotokolle von Guantanamo, die Frank Smith 2010 bei Éditions du Seuil unter dem Namen des von den Vereinigten Staaten in Kuba als Reaktion auf den 11. September eingerichteten Anhaltelagers veröffentlicht hat.

"No ideas but in things."[1]

2006 veröffentlichte die amerikanische Regierung im Namen der im Freedom of Information Act verankerten Informationsfreiheit die Verhörprotokolle von 317 Gefangenen, die terroristischer Akte verdächtigt wurden. Frank Smith verwendete sie als Grundlage für eine Reihe von 'Rezitativen', eine - bewusst wertfrei gestaltete - Litanei von Aussagen. Auf diese Weise ins Reich der Fiktion übertragen, erinnert diese Niederschrift in der "blanken" Sprache eines Aussageprotokolls an manchen Stellen an Texte von Marguerite Duras oder Charles Reznikoff. Der Text hat aufrüttelnde, gleichzeitig poetische und politische Wucht. Im Spannungsfeld zwischen Drama, musikalischer Komposition und Skulptureninstallation angesiedelt, gelingt es dieser Aufführung, der die für Inszenierungen des ursprünglich als bildender Künstler ausgebildeten Éric Vigner typische visuelle Schönheit innewohnt und die gleichzeitig seinen achtsamen Umgang mit Text und Handlung widerspiegelt, die unerbittliche rhetorische Logik des Textes bloßzulegen, in der das Absurde Teil des Horrors ist und das Fehlen jeglichen Kommentars es leichter macht , das Unaussprechliche auszusprechen.

"Wir werden Ihnen jetzt einige Fragen stellen, um Ihre Geschichte besser zu verstehen." [2]

Mit einer "Frage" konfrontiert

"Das 17. Jahrhundert, "le Grand Siècle", die Ära des Corneille: kulturelle Blütezeit, in der der königliche Hof, die Granden, der Sonnenkönig selbst im Glanz seines Königtums, alle Künste bemühen, ihre Größe zu feiern... Und die Untertanen, die 'kleinen Leute'? Sie bleiben im Dunkel, bleiben namenlos. Guantanamo - sicherlich etwa ganz anderes, ein ganz anderer Ort, wo die Menschen nicht frei wandeln, nicht einander auf der Straße begegnen, sondern vor jenen stehen, die sie 'befragen'. Nicht länger geht es um menschliche Bindungen, um Freundschaft und Liebe, um Familienbande (diese steigen nur mehr schemenhaft aus der Vergangenheit auf, nostalgisch, voll schmerzvollem Verlangen) - denn diese Menschen sind von einander isoliert, konfrontiert mit einer Behörde und ihren 'Fragen'. Sie müssen für sich selbst geradestehen, ihre Identität offenlegen. Im Text von Guantanamo hört man - nein, spürt man unausgesprochen - die Not der Gefangenen, wie sie ihre Antworten zu Protokoll geben, Antworten auf Fragen wie: wer sind Sie, was sind Sie, wo kommen Sie her, über welches Land, ist das Ihr richtiger Name, was sind Sie von Beruf...? Fragen, die sie zwingen sollen, sich preiszugeben, die sie festnageln, die, wie schon Foucault gesagt hat, darauf abzielen, Kontrolle auszuüben, sie 'polizeilicher Macht' zu unterwerfen (wobei all dies ja auf dem Begriff des "Polizeistaats" des achtzehnten Jahrhunderts beruht). In Guantanamo geht es klarerweise um einen modernen, einen ultramodernen Staat, um die Vereinigten Staaten, die Menschen einer Befragung unterziehen, welche - wenigstens zum Teil - keine Ahnung davon haben, was es heißt, in einem Koordinatensystem zu leben, in dem die Identität jedes einzelnen stets in Raum und Zeit erfasst werden kann."
Jean-Claude Monod

"Man braucht Landkarten, um Reisen und Wege nachvollziehen zu können."
ÉRIC VIGNER

Ein Babylonisches Theater

"Über die Jahrhunderte herrschte im Theater stets ein gewisser Zweifel an dem sichtbaren Teil unserer Welt und wie man ihn auf der Bühne darstellen solle. Vom 17. Jahrhundert an zeichnen die aufgeführten Texte immer wieder die Fluchtlinien und blinden Flecke im Raum nach, die Schattenseiten, die unzugänglichen Seiten der menschlichen Existenz - alles was versucht, sich zu verstecken, zu schweigen oder was zum Schweigen gebracht wird. Je nach den gängigen Fabeln und Darstellungsweisen der jeweiligen Zeit umschreiben sie auf ihre Weise den geheimen Ort des - symbolisch oder real begangenen - Verbrechens. Ohne Zweifel findet das Wesentliche auf der Bühne der Sprache statt, dort wo die Verführung des Sichtbaren vereitelt wird. Der klassische Alexandriner? In Wahrheit eine fremde Sprache. Die karge Sprache Frank Smiths - die den Abgrund des Unverständnisses auftut, des Nicht-Verstehens zwischen den angeklagten Jemenitern, Saudis, Pakistanis und Afghanen und den über sie zu Gericht Sitzenden, die sie auf Amerikanisch befragen, dessen sie kaum oder gar nicht mächtig sind; das Sprachenbabel von La Faculté, wo Ahmed, Jeremie und ihre Kollegen fremde Sprachen lernen, während sie von anderen Welten, vom Exil, träumen... Auf je verschiedene Weise, doch immer poetisch und klangvoll, bricht jeder dieser Texte die Oberfläche der Bildersprache auf, durchdringt das Lärmen der Welt und stellt die Fähigkeit der Sprachen auf die Probe, auf einander zuzugehen, mit - und nebeneinander zu bestehen und zu kommunizieren. Die jungen Schauspieler der Académie nehmen körperlichen Kontakt mit der Unterschiedlichkeit der Sprachen, des Baumaterials für ein Babylonisches Theater. Gerade dieser Ansatz des Regisseurs Éric Vigner macht das Einmalige der Académie aus. Indem sie gemeinsam und gleichzeitig an diese Werke herangehen, sorgfältig bedacht, sie nicht zu 'vermischen', lernen die Schauspieler auf das zu achten, was für uns heutige Menschen nachklingt – im Intervall zwischen den Stücken, den Texten, auch zwischen den Mitgliedern des Teams und zwischen den Schauspielern und ihrem Publikum. Was bleibt, ist die Frage, wie die Überwindung der Kluft, der Unterschiede menschlicher, sprachlicher künstlerischer, geschichtlicher und gesellschaftlicher Art, es schaffen könnte, Räume zu bauen, in denen der Geist, die Imagination, sich frei und auf überraschende Weise bewegen kann - hier und jetzt, auf der Bühne und für jeden von uns, allein oder zusammen mit anderen. Es geht nicht so sehr darum, die Welt zu verändern, sondern zu versuchen, Zeitgenossen dieser Welt zu sein."
SABINE QUIRICONI

[1] PATERSON, Gedicht von WILLIAM CARLOS WILLIAMS, 1927
[2] GUANTANAMO von FRANK SMITH, Éditions du Seuil 2010

 

© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient